Schwimmen und Safran statt Schlafmangel und Schokobrötchen:
Warum mir der Fototrip 2021 in bester Erinnerung blieb, obwohl er wenig produktiv war und letztendlich sogar in einem Desaster endete, erfährst du in diesem Reisebericht.
Falls du es eilig hast und nur Informationen zu den besuchten Spots suchst, kannst du auch direkt zu dem Location-Abschnitt springen.
Herzlich Willkommen zu einem Hauch von “Dolce Vita” in der Cinque Terre!
PROLOG
August 2021
Noch bin ich mit meiner Frau auf Malta, aber in gut 6 Wochen steht bereits meine alljährliche Fototour an. In Anbetracht dieses recht knappen Zeitrahmens sollte ich mich längst auf ein Reiseziel festgelegt haben, doch von Jahr zu Jahr fällt mir diese Entscheidung schwerer. Nicht, weil mir nach inzwischen 25 bereisten Ländern keine lohnenden Ziele mehr einfallen würden - ganz im Gegenteil. Vielmehr scheint mich die riesige Bandbreite an noch offenen Locations zu überfordern.
Auf Facebook stolpere ich über das gelungene Bild eines italienischen Örtchens, aufgenommen von meinem Fotografen-Kollegen Thomas Rieger. Das von ihm abgelichtete Riomaggiore ist eines von 5 Dörfern der sogenannten Cinque Terre, welche eigentlich schon 2018 Ziel meiner fotografischen Ambitionen war.
Mein Freund Maurice und Ich mussten damals aufgrund schwerer Unwetter in der Region umdisponieren, doch jetzt erscheint mir der Zeitpunkt für einen Besuch der Cinque Terre vor allem aus folgenden beiden Gründen ideal zu sein: Erstens erspare ich mir durch die untereinander gegebene geografische Nähe der Orte lange Anfahrtswege zwischen den einzelnen Locations, und zweitens sind die Dörfer allesamt eher Sonnenuntergangs- denn Sonnenaufgangsspots, was mir als Nachtmenschen und Langschläfer äußerst willkommen ist.
Ich kontaktiere Thomas, der sich auf seinem Trip unglücklicherweise den Fuß gebrochen hatte, und frage ihn nach seinen persönlichen Eindrücken und Erfahrungen bezüglich seines Besuchs der Cinque Terre.
Bereitwillig versorgt er mich nicht nur mit Informationen zur Anreise und den Locations, sondern gibt mir auch einige wertvolle Tipps zum Verkehr und zu Übernachtumgsmöglichkeiten. An dieser Stelle noch einmal recht herzlichen Dank für deine tolle und wertvolle Unterstützung, lieber Thomas - du hast einen gut bei mir!
ANREISE
Montag, 20 September 2021
Auf der Fahrt zum Amsterdamer Flughafen bemerke ich, wie die Freude auf den bevorstehenden Trip durch einen Vorsatz, den ich für diese Reise gefasst habe, gedämpft wird: Ich möchte die Zeit in Italien auch dafür nutzen, um mir in Ruhe Gedanken über die Sinnhaftigkeit meiner beruflichen Zukunft als Heilerziehungspfleger zu machen. Ich bin seit 25 Jahren in einer Einrichtung für Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung tätig, erwäge aber aufgrund negativer Veränderungen institutioneller Rahmenbedingungen und ständiger Überstunden in Unterbesetzung zu kündigen - obwohl ich diese Arbeit prinzipiell nach wie vor sehr gerne mache und sowohl meinen liebgewonnenen Kollegen, als auch die uns anvertrauten Bewohner extrem vermissen würde.
Ich wische diese Gedanken fürs Erste beiseite.
Im Laufe der kommenden Tage werde ich - fern von beruflichen und familiären Verpflichtungen - noch genug Zeit haben, um mir über diese weitreichende und mich belastende Entscheidung klar zu werden.
Da ich kurz vor Amsterdam in einen kleineren Stau geraten bin, kommt etwas Hektik auf - schließlich muss ich den Wagen noch beim reservierten Parkservice abgeben und darf auf keinen Fall meinen Flug von Schiphol nach Pisa verpassen. Von dort aus wird es mit dem Zug über La Spezia nach Vernazza weitergehen, wo ich mich für die nächsten fünf Nächte in ein kleines, aber nett wirkendes AirBnB bei Ivo eingemietet habe.
Am Flughafen angekommen, muss ich - wie schon so oft - über die Putzigkeit der niederländischen Sprache schmunzeln: Auf einem Plakat wird auf die Notwendigkeit des Tragens einer Mund-Nasen-Schutzmaske hingewiesen, die hier aber viel süßer als "Mondkapjes" bezeichnet werden. Mondkapjes - Ich schmeiß mich weg!
Ansonsten scheinen die Corona-Bestimmungen aber erstaunlich locker gehandhabt zu werden. Auf der ganzen Hinreise muss ich weder meine Impfzertifikate, noch das für die Einreise nach Italien eigentlich zwingend notwendige “Passenger-Locator-Formular” vorzeigen.
Kurz nach der Ankunft in La Spezia kontaktiere ich meinen Gastgeber Ivo, um ihn über meine baldige Ankunft zu informieren. Er holt mich um 18:45 Uhr an der Apotheke in Vernazza ab, die nur 100 Meter vom Bahnhof entfernt liegt. Gleich neben der Apotheke befindet sich auch der Zugang zu dem angemieteten Zimmer im obersten Stock. Netterweise bietet sich Ivo an, meinen Koffer die Treppen hochzutragen, doch aus Rücksicht auf sein Alter lehne ich höflich dankend ab. Schulterzuckend geht Ivo voran. Warum lächelt er bloß so hämisch?
Vier Stockwerke später weiß ich - schweißgebadet - Bescheid, aber laut meines Gastgebers bin ich nicht der Erste, der die körperlichen Herausforderungen dieses steilen Treppenhauses unterschätzt.
Nachdem er mir das Zimmer gezeigt, und mich mit Tipps und Hinweisen für Vernazza versorgt hat, packe ich das Nötigste aus und beschließe ein wenig den Ort zu erkunden - auch, um meinen nach 12-stündiger Anreise knurrenden Magen durch einen Restaurantbesuch zu besänftigen.
Erstaunt blicke ich mich nach Verlassen des Hauses um. Wo sich bei meiner Ankunft noch Heerscharen von Touristen durch die engen Gassen drängten, herrscht jetzt gähnende Leere.
Am Hafen angekommen bereue ich, dass ich mich aufgrund der bereits fortgeschrittenen Dunkelheit dazu entschlossen hatte, ohne meine Kameraausrüstung loszuziehen. Den Anblick des unter mondbeschienenen Wolken liegenden Vernazzas hätte ich gerne würdiger als mit diesem schnöden Handybildchen festgehalten.
Die anschließende Suche nach einem Restaurant gestaltet sich unerwartet schwierig, da viele Etablissements schon geschlossen, oder nur noch Getränke im Angebot haben. Offensichtlich sind die meisten Lokalitäten hauptsächlich auf die zahlreichen Tagestouristen ausgelegt, die um diese Uhrzeit den Ort schon längst verlassen haben. Letztendlich bekomme ich im "5 Terre Bistrot" noch ein Bier und eine kleine Portion Ravioli, die mich geschmacklich aber noch weniger überzeugt, als das bekannte Dosen-Pendant von Maggi.
“A VERNAZZA HIGH”
Dienstag, 21. September 2021
In der Nacht habe ich nur wenig geschlafen. Immer wieder kreisen meine Gedanken erfolglos um die Lösung der eingangs erwähnten Problematik mit meinem Job als Heilerziehungspfleger. Es war für mich schon immer schwierig den Alltag mit 2 Kindern und einer in Gegenschichten arbeitenden Frau zu organisieren, ohne dabei komplett auf persönliche Freiräume zu verzichten. Doch monatelang unbesetzte Stellen durch den sich seit Jahren verschärfenden Fachkräftemangel und der damit einhergehenden Mehrarbeit (oft auch durch Einspringen an den raren freien Wochenenden), haben mich inzwischen an den Rand meiner Kräfte gebracht. Der Ärger darüber, dass diese Belastungen seitens des Arbeitgebers bislang nicht ernstgenommen, und somit sämtliche von uns vorgebrachten Vorschläge zur Milderung abgelehnt wurden, bricht sich Bahn.
Ich könnte heulen vor Wut, verfalle aber stattdessen wieder in lethargisches Grübeln - und komme bis 11:00 Uhr weder auf eine Lösung meines Problems, noch aus der Wohnung. Was mache ich hier eigentlich? Statt mich darüber zu freuen, dass ich fast eine Woche komplett verpflichtungsfrei in einem der schönsten Orte der Welt mit meinem Lieblingshobby Fotografie verbringen darf, liege ich trübsinnig im Bett und schaffe es einfach nicht mich aufzuraffen.
Erst als ich beschließe, mich entgegen meines Vorsatzes in diesem Urlaub nicht weiter mit der Job-Problematik zu befassen und stattdessen die kommenden Tage in vollen Zügen zu genießen, schaffe ich es den Rucksack zu packen und mich auf den Weg zu den Wunsch-Spots für den heutigen Sonnenuntergang zu machen.
Ohne Frühstück und somit leerem Magen folge ich der Beschilderung des Wanderweges zum Nachbarort Corniglia in südlicher Richtung und finde schon nach kurzer Zeit den Aussichtspunkt mit dem wohl schönsten Blick auf Vernazza.
Der sehr begrenzte Platz mit freiem Blick auf die Stadt bietet nicht besonders viel Möglichkeiten zur Kompositionsgestaltung, trotzdem investiere ich 30 Minuten um den optimalen Standpunkt für mein Stativ und die erforderliche Brennweite zu ermitteln. Meiner Erfahrung nach ist eine gute Vorbereitung oftmals der Schlüssel zu einem gelungenen Bild, gerade wenn es, wie zum Beispiel bei einem meiner Bilder an den griechischen Meteora-Klöstern, beim eigentlichen Shooting hektisch werden sollte.
Da mich der Weg zu einem alternativen Standpunkt auf der gegenüberliegenden Seite des Hafens ohnehin wieder herunter nach Vernazza führt, mache ich dort einen kleinen Zwischenstopp und gönne mir eine Portion “Pasta Frutti di Mare”. Lecker, aber irgendwie stelle ich mich mit den Meeresfrüchten zu dumm und, so dass recht viele Schalenreste zwischen die Nudeln geraten.
Mit muschelknirschenden Zähnen arbeite ich mich anschließend die vielen Treppen in Richtung des zweiten möglichen Standpunktes hoch, komme aber wenige hundert Meter vor dem Ziel nicht weiter, da hier der kostenpflichtige Teil des Höhenwanderweges nach Monterosso al Mare beginnt. Nur für das Scouten des Spots mag ich die vom grimmig dreinblickenden Wege-Troll geforderten 7,50 Euro nicht ausgeben, zumal ich auf ein zu späterer Stunde unbesetztes Kontrollhäuschen hoffe. Mit der Cinque Terre Card wäre man in dieser Situation fein raus, doch da ich weder zum Wandern hier bin, noch mehr als zwei Zugfahrten pro Tag benötige, hätte sich ein Erwerb dieser Karte für mich nicht gerechnet.
Falls du aber die vielgepriesenen Wanderwege erkunden, und/oder mehrmals pro Tag zwischen den Ortschaften pendeln möchtest, könnten folgende Informationen eventuell hilfreich für dich sein:
Info Wanderwege | Cinque Terre Card
Generell sind nur die folgenden Wanderwege in der Hauptsaison (zwischen 18. März und 5. November) kostenpflichtig:
Vernazza - Monterosso, Vernazza - Corniglia, Manarola - Riomaggiore (aktuell gesperrt, voraussichtliche Wiedereröffnung: 7/2024)
Pro Wanderweg werden 7,50 Euro an Gebühren erhoben, es sei denn, man ist in Besitz der Cinque Terre Card. Diese Karte wird sowohl online, als auch in den Infobüros des Nationalparks verkauft, ebenso in den Bahnhöfen von La Spezia, Levanto und an jedem Bahnhof von Cinque Terre. Es gibt sie in zwei Varianten:
Die Cinque Terre Trekking Card kostet 7.50 Euro pro Tag oder 14.50 Euro für 2 Tage (Erwachsene) und ermöglicht Zutritt zu den drei gebührenpflichtigen Wanderwegen.
Die Cinque Terre Treno MS Card (Zug + Wanderwege) kostet 18.20 Euro pro Tag, 33 Euro für 2 Tage und 47 Euro für 3 aufeinander folgende Tage (Erwachsene). Die Zugkarte beinhaltet neben der Nutzung der kostenpflichtigen Wanderwege auch unbegrenzte Zugfahrten mit den Regionalzügen auf der Strecke Levanto - Cinque Terre - La Spezia.
Detailliertere Informationen zur Cinque Terre Card findest du hier.
Unverrichteter Dinge gehe ich wieder hinunter ins Dorf. Das harte Licht am frühen Nachmittag ist wenig fotogen, so dass ich unterwegs nur ein paar Schnappschüsse mache, mir am Hafen ein Eis gönne - und beschließe etwas Schlaf nachzuholen.
Als um 18:00 Uhr der Wecker klingelt, checke ich direkt die Wetter- und Wolkenlage. Da diese wenig Hoffnung auf einen farbenfrohen Sonnenuntergang macht, ergibt es für mich wenig Sinn am ersten Spot in westliche Richtung zu fotografieren. Erneut stapfe ich also mit dem schweren Rucksack die Treppen in Richtung Monterosso al Mare hoch und bin hocherfreut, dass der Troll inzwischen seine Bude geräumt hat und somit keinen Wegezoll mehr erheben kann.
Am Spot angekommen genieße ich einige Minuten lang den auch von hier sehr schönen Blick auf Vernazza, merke aber schnell, dass mir in der kompositorischen Gestaltung eine unliebsame Grenze gezogen wird: Ich muss über die recht hohen und unattraktiven Gräser am Aufnahmestandpunkt hinweg fotografieren, da diese während den bei einbrechender Dunkelheit nötigen Langzeitbelichtungen aufgrund des Windes sicherlich verwischen würden.
Gerade noch die Grasspitzen aus dem Bildausschnitt haltend, schwenke ich die Kamera so weit wie möglich herunter, doch eine Testaufnahme bestätigt die unausgewogene Bildwirkung durch den sich so ergebenden Bildausschnitt. In Ermangelung einer attraktiveren Alternative bleibt mir jedoch nichts anderes übrig, als diese Gegebenheit zu akzeptieren.
Während ich noch ein wenig an den Feinheiten der Komposition arbeite, bekomme ich plötzlich Gesellschaft in Gestalt eines jungen Pärchens, das sich hier offenbar zum Sonnenuntergangs-Picknick eingefunden hat. Nach einer kurzen Begrüßung haben die beiden Turteltauben nur noch Augen für sich selbst, trotzdem ist es mir aufgrund des entstehenden Startlärms unangenehm, die mitgebrachte Drohne steigen zu lassen.
Nach einigen etwas ungelenken Flugmanövern vor Vernazza, die meiner mangelnden Praxiserfahrung geschuldet sind, wird es plötzlich heiß.
Nicht so sehr, weil das Pärchen inzwischen so wild und hemmungslos knutscht, dass ich mir nicht sicher bin, ob sie sich nicht aus Versehen gegenseitig auffressen werden, sondern vielmehr aufgrund des eindringlichen Warntons der Fernbedienung. Die Akkukapazität meiner Mavic Mini ist fast erschöpft und gerade noch ausreichend, um sich gegen den Wind zu meiner Position zurückzukämpfen. Leider habe ich Probleme, meinen Standpunkt im stark reflektierenden Handydisplay wiederzufinden - und verliere zu allem Überfluss auch noch den Sichtkontakt zur Drohne. Dankenswerterweise übernimmt letztendlich die eingebaute Automatik mithilfe der gespeicherten Startposition die Kontrolle über den Landeanflug, so dass ich nur noch die letzten Meter des Manövers manuell steuern muss. Verschwitzt verstaue ich die Drohne, fasse gute Vorsätze bezüglich eines ausführlichen Handbuchstudiums und stelle erleichtert fest, dass meine Platznachbarn trotz ihres kannibalistischen Treibens nach wie vor unversehrt sind.
Nach Sonnenuntergang erwachen sukzessive die Lichter der Stadt, und zum Einbruch der blauen Stunde kommt sogar noch richtig Farbe in die spärlich verteilten Wolken. Blöd nur, dass diese sich hinter mir befinden - ich hätte heute also doch besser von dem anderen Standpunkt in Richtung Westen fotografieren sollen. Tja, das Leben ist nicht immer nur Pommes & Disco, doch immerhin habe ich nun mit “A Vernazza High” das erste richtige Bild der diesjährigen Fototour im Kasten:
Als gegen 21:30 Uhr das Restlicht des Himmels zu schwach wird, packe ich meine Sachen zusammen und mache mich in Vernazza auf die Suche nach einem geeigneten Restaurant, das noch warme Speisen bietet. Bei der Ananasso Bar am Hafen habe ich Erfolg, kann mir tatsächlich noch eine Pizza bestellen und freue mich wie Bolle auf das Essen - schließlich sind inzwischen schon wieder 10 Stunden seit der letzten richtigen Mahlzeit vergangen. Um es mit den Worten meiner kleinen Tochter zu sagen: Mir schaukeln schon die Lippen!
Obwohl ich mehr oder weniger der einzige Gast bin, lässt die Bestellung ungewöhnlich lange auf sich warten. Als die Service-Kraft nach gefühlten Ewigkeiten mit der Pizza zu meinem Tisch kommt, mutiere ich vollends zum Pawlowschen Hund. Beim Anblick der verbrannten Mafia-Torte macht sich zwar leichte Enttäuschung breit, doch mithilfe zweier Biere rutscht ein Großteil dieses zweifelhaften kulinarischen Genusses letztlich ganz gut herunter.
“SPIKY MANAROLA”
Mittwoch, 22. September 2021
Ich habe heute extrem lange geschlafen, anschließend mit im Supermarkt besorgtem Brot und einem Liter Milch am Hafen gefrühstückt - und ansonsten den lieben Gott einen guten Mann sein lassen. Sonne auf der Haut, Meergeruch in der Nase und gute Musik in den Ohren: Das Leben kann so schön sein …
Nebenbei lerne ich durch ein Video-Turorial, wie man eine Drohne mit der Hand fängt, lese etwas im Handbuch meiner Mavic Mini und mache darüber hinausgehend bis zum frühen Nachmittag rein gar nichts.
Gegen 16:00 Uhr bin ich aber in Manarola und mache mich auf die Suche nach möglichen Kompositionen für eine Abendaufnahme des Ortes. Ich finde eine recht unverbrauchte Ansicht an der Anlegestelle, aber dort gibt es mir zu viele sich sonnende Menschen und Schwimmer.
Ich könnte meinen Standpunkt natürlich einfach am Küstenweg, der durchaus schöne Blicke auf Manarola bietet, beziehen, doch hier herrscht noch mehr Trubel als an der Anlegestelle - und besonders originell wäre diese Komposition auch nicht.
Je mehr ich darüber nachdenke, desto reizvoller finde ich die Idee, über das Geländer des Weges zu steigen und die dahinterliegenden, schroffen Felsformationen hinunterzuklettern, um diese als Vordergrundmotiv in meine Aufnahme implementieren zu können.
Es geht dort zwar ein paar Meter recht steil abwärts, doch ich habe in der Vergangenheit schon weitaus waghalsigere Manöver erfolgreich hinter mich gebracht. Wirklich zögern lässt mich eigentlich nur der Gedanke an die mir extrem unangenehme Aufmerksamkeit der zahlreichen Touristen, die ich mit so einer Aktion wahrscheinlich auf mich ziehen würde. Ich beschließe zurück in den Ort zu gehen, um bei einem Bier in Ruhe über mein Vorhaben nachzudenken:
Die in größeren Abständen verteilten Tore der Absperrung sind zwar allesamt verschlossen und mit einem Warnhinweis versehen, aber explizit verboten scheint der Zugang zu den Felsen nicht zu sein.
Das Meer ist ruhig, und somit besteht absolut keine Gefahr von einer größeren Welle überrascht und weggespült zu werden.
Letztendlich kann mir sogar die Aufmerksamkeit der Touristen herzlich egal sein, da mich hier ohnehin niemand kennt.
Damit ist es beschlossen. Um den einmal gefassten Mut nicht zu verlieren, schütte ich mir vorsichtshalber eine zweite Dose Bier in den Kopf, gehe zum Küstenweg zurück und klettere, ein munteres Lied pfeifend, über das Gitter. Ich bin begeistert von meiner Performance - man wird wohl annehmen müssen, das Übersteigen von Absperrungen sei mein Brot- und Buttergeschäft.
Da die Felsen unerwartet scharfkantig sind, lasse ich den schweren Kamerarucksack erstmal recht weit oben zurück und gehe mit der so wiedergewonnenen Bewegungsfreiheit auf die Suche nach geeigneten, kompositionsstützenden Vordergrundstrukturen.
Nachdem ich mit dem Handy verschiedene Alternativen ausprobiert und miteinander verglichen habe, lege ich mich auf den mir am geeignetsten erscheinenden Standpunkt fest und hole meine zurückgelassene Kamerausrüstung herunter.
Die anschließenden 20 Minuten kämpfe ich mit dem Stativ, welches sich an der gewünschten Stelle partout nicht zwischen die Felsen fuckeln lassen will. Letztendlich ist der Sieg aber meiner, und der abschließende Check mittels einer Testaufnahme bestätigt sowohl die gewünschte Ausrichtung der Kamera, als auch das korrekte Setzen des Fokuspunktes, welches eine hinreichende Schärfe sowohl im Vorder-, als auch im Hintergrund ermöglicht.
Soweit gut vorbereitet mache ich mir Gedanken zum später zwangsläufig nötig werdenden Aufstieg in der Dunkelheit. Von hier unten sieht die zu erklimmende Felswand zwar nicht sonderlich hoch, dafür aber verdammt steil aus. Ich hoffe, dass ich beim Hochklettern mit eingeschränkter Sicht und dem schweren Kamerarucksack auf dem Rücken keine Probleme bekommen werde …
Da ich noch genügend Zeit bis zum Einsetzen der blauen Stunde habe, mache ich ein paar Aufnahmen mit der Mavic und bin froh, dass ich mir heute das Tutorial zum Thema “Wie fange ich eine Drohne mit der Hand” angesehen habe - eine normale Landung wäre bei dem zerklüfteten Terrain um mich herum kaum möglich. Besorgt um meine Fingerchen, aber geschmeidig wie ein Ninja pflücke ich die aufgeregt sirrende Drohne aus der Luft und drehe sie blitzschnell auf den Rücken. Sofort geben die Rotoren Ruhe: Mission accomplished!
Weil ich die gefundene Komposition im Laufe des Abends nicht mehr verändern werde und es - bis auf das gelegentliche Betätigen der Fernauslösung und die schrittweise Verlängerung der Belichtungszeit - keiner weiterer Aktionen meinerseits bedarf, kann ich in meinen Lieblings-Fotografiemodus “Sehen & Genießen” wechseln.
Während gelegentlich ein warmer Luftzug das in meiner Nähe befindliche Windspiel zum Klingen bringt, und kleine Wellen sanft an die Felsen plätschern, beobachte ich die sich ändernden Verhältnisse. In der goldenen Stunde vor Sonnenuntergang leuchten die bunten Häuser Manarolas im wärmer werdenden Licht immer intensiver. Sobald die Sonne unter den Horizont sinkt, werden die Schatten weicher - und somit der Kontrastumfang der Szenerie geringer. Parallel zum langsamen Abkühlen der vorherrschenden Farbtemperatur erwachen die ersten Lichter der Stadt. Dominieren hierbei anfangs noch die Straßenlaternen, leuchten mit zunehmender Dunkelheit auch immer mehr Fenster auf. Das Bild “Spiky Manarola” entsteht ….
Als gegen 20:30 Uhr das Restlicht des Himmels die tieferen Schatten im Ort nicht mehr aufhellen kann, packe ich meine Sachen zusammen, schultere den Rucksack und klettere vorsichtig die Felsen hoch. Leider fasse ich dabei mehrfach in ein kakteenartiges Gewächs, welches beide Händen mit unzähligen, extrem kleine Stacheln ausstattet. Einige Augenblicke später steige ich - zwar leicht ramponiert, aber glücklich - wieder über die Absperrung und mache mich in allerbester Laune auf den Rückweg nach Vernazza.
“FOND MEMORIES”
Donnerstag, 23. September 2021
Da ich gestern Abend noch fast zwei Studen mit dem Projekt “Pfötchen-Entstachelung” beschäftigt war und dementsprechend spät schlafen gegangen bin, habe ich heute morgen wieder lange ausgeschlafen. Noch im Bett liegend mache ich grobe Pläne für heute: Nach dem Frühstück möchte ich den Tag faulenzend am Strand verbringen und je nach Entwicklung der Bewölkungssituation kurzfristig entscheiden, ob ich abends hier in Vernazza, oder in Riomaggiore fotografieren werde.
Nachdem ich mich in meine Badeshorts geworfen, und den Rucksack mit den nötigsten Utensilien gepackt habe, mache ich mich auf die Suche nach einer hübschen Frühstücks-Lokalität. Inzwischen ist es schon früher Mittag, und die örtliche Gastronomie ist offensichtlich nicht auf Langschläfer eingestellt. Trotz der negativen Erfahrung von Dienstag Abend bestelle ich tageszeitkonform eine Pizza - und bekomme zu meiner eigenen Überraschung ein ganz hervorragendes Exemplar serviert.
Am Strand finde ich auf einem großen Felsen noch ein freies Plätzchen und verbringe ein paar wunderbare Stunden mit sonnen, schwimmen, Musik hören und lesen. Belustigt beobachte ich eine Gruppe von jungen Frauen, die sich - halb im Wasser stehend - zwecks Auffrischung ihres IG-Profils gegenseitig mit dem Handy ablichten und dazu professionell die bekannten und immer gleichen Standardposen einnehmen. Der Kontrast zwischen dem sicherlich hübsch anzusehenden und elegant wirkendem Endergebnis auf der einen, und dem tollpatschigen Slapstick-Eiertanz, den die Damen aufgrund des steinig-felsigen Meeresbodens aufführen, auf der anderen Seite, könnte größer und lustiger nicht sein.
Die sich teils widersprechenden Prognosen der im Tagesverlauf immer wieder konsultierten Wetter-Apps helfen in Bezug auf die Wahl eines Spots für heute Abend nicht weiter. Sollte die Chance auf ein hübsches Abendrot bestehen, würde ich gerne Vernazza in Richtung des Sonnenuntergangs fotografieren. Falls nicht, stünde Riomaggiore mit Blickrichtung Nord-Ost auf dem Programm. Letztendlich entscheide ich mich für die erste Option, da es Himmel ein paar hohe Wolken gibt, die zur blauen Stunde eventuell noch durch das warme Licht der dann bereits untergegangenen Sonne angestrahlt werden könnten.
Aufgrund des nur begrenzt zur Verfügung stehenden Platzes an der Location möchte ich dort bereits zwei Stunden vor Sonnenuntergang Stellung beziehen, so dass ich um 16:00 Uhr den Strand verlasse, den Kamerarucksack hole und mich auf den steil ansteigenden Weg zum Spot mache.
Verdammt! Trotz meines überpünktlichen Erscheinens um 17:15 Uhr ist bereits ein anderer Fotograf anwesend und hat sein Stativ an exakt der Stelle aufgestellt, die ich eigentlich für meine Aufnahme nutzen wollte.
Beim Suchen eines alternativen Standpunktes und den anschließenden Vorbereitungen komme ich mit meinem “Plätzchen-Dieb” ins Gespräch:
Jim kommt aus Dallas, ist 70 Jahre alt und macht gemeinsam mit seiner Frau Jill hier in der Cinque Terre Urlaub.
Etwas später gesellt sich noch ein professioneller Fotograf namens Tony dazu. Wir drei verstehen uns ausgezeichnet und unterhalten uns angeregt, während sich immer mehr Menschen zum Sonnenuntergang einfinden.
Zur Feier der äußerst positiven Stimmung würde ich gerne mit meinen neuen Bekannten anstoßen, doch meine mitgebrachte PET-Colaflasche macht diesbezüglich natürlich nur wenig her. Jim und Tony lassen sich recht schnell von meiner Einladung überzeugen und passen auf mein Equipment auf, während ich nach Vernazza heruntersprinte, um uns drei Dosen Bier zu besorgen.
Auf dem Rückweg treffe ich Jims Frau, der ich versprechen muss gut auf ihren Mann aufzupassen. Sie macht sich etwas Sorgen, dass er später in der Dunkelheit Probleme mit den teils recht steilen und unebenen Wegen haben könnte. Es ist natürlich Ehrensache, dass ich ihrer Bitte entsprechen werde.
Zurück am Spot stoße ich mit Jim und Tony an, die während meiner Abwesenheit in Kontakt mit einer Fotografin gekommen sind. Ich unterhalten mich eine ganze Weile nett auf englisch mit ihr, bevor wir realisieren, dass wir beide Deutsche sind. Sabine kommt aus Berlin, musste die Reise kurzfristig ohne ihren arbeitsbedingt verhinderten Freund antreten - und ist mir mit ihrer natürlichen Art auf Anhieb sehr sympathisch.
Gerne würde ich noch etwas länger mit ihr plaudern, doch langsam wird es auch fotografisch extrem interessant. Die nachmittags aus dem Bauch heraus getroffene Entscheidung, für den heutigen Abend auf Vernazza zu setzen, erweist sich offenbar als echter Glücksfall:
Gemeinsam erleben wir an diesem schönen Spätsommerabend, wie die Sonne hinter den Bergen der Bucht untergeht und kurz darauf die hohen Wolken unerwartet kräftig färbt.
Zu meiner Überraschung packt Tony ausgerechnet jetzt seine Sachen zusammen und will sich verabschieden - dabei steht die meiner Meinung nach attraktivste Lichtsituation doch noch aus.
Aus Erfahrung weiß ich, dass das Abendrot bei derart hohen Wolken noch sehr lange anhalten kann und somit die Möglichkeit auf ein Bild besteht, dass nicht ausschließlich von dem schönen Himmel über Vernazza lebt, sondern darüber hinaus auch durch die bald erwachenden Lichter des Ortes bereichert werden wird.
Für Tony hingegen ist der Höhepunkt des Fotoabends seit dem Verschwinden der Sonne überschritten. Meine Argumentation läuft bei ihm völlig ins Leere, er mag sich einfach nicht zum Bleiben überreden lassen. Da wir aber dennoch den Kontakt aufrecht erhalten wollen, überreicht er mir zum Abschied seine Visitenkarte, tippt sich an den Hut - und lässt Jim, Sabine und mich alleine zurück.
Wie erwartet setzt kurz darauf die Straßenbeleuchtung ein, und mit der langsam zunehmenden Dunkelheit nimmt auch die Anzahl der Lichter hinter den Fenstern Vernazzas zu:
Erst gegen 20:15 Uhr - und damit fast eine ganze Stunde nach Sonnenuntergang - werden die Kameras eingepackt. Wir haben inzwischen bemerkt, dass sich die Helligkeits-Balance von der künstlichen Beleuchtung und dem Restlicht des Himmels endgültig zu unserem Ungunsten verschoben hat: Während die Landschaft und die unbeleuchteten Teile Vernazzas langsam in einem tiefen Schwarz versinken, wirken die hellen Lichter der Stadt nun deutlich zu dominant. Sabine und ich begleiten Jim wie versprochen sicher hinunter ins Dorf und verabschieden uns herzlich von ihm.
Ich habe inzwischen richtig Hunger bekommen, sollte vor einem Restaurantbesuch aber auf jeden Fall duschen gehen: Mir klebt noch immer das Salz des Meerwassers von heute Nachmittag auf der Haut.
Obwohl Sabine ganz ähnliche Pläne hat, und ich mich sehr über ein gemeinsames Abendessen mit ihr freuen würde, möchte ich mich ihr auf gar keinen Fall aufdrängen. Wir verabschieden uns mit der losen Aussicht, dass man sich später eventuell noch über den Weg laufen wird - schließlich ist Vernazza nicht sonderlich groß.
Eine halbe Stunde später bin ich einigermaßen restauriert, mache ich mich entlang der Hauptstraße auf die Suche nach einem Restaurant und halte nebenbei erfolglos Ausschau nach Sabine. Nach den netten Gesprächen von heute Abend hätte ich wirklich Lust auf etwas Gesellschaft gehabt und fühle mich kurze Zeit später, alleine vor meinem Pasta-Teller sitzend, auf dieser Fototour zum ersten Mal etwas einsam. Nach einem längeren Telefonat mit meiner Familie, in dem ich von dem heutigen schönen Tag erzähle, ist die Welt wieder in Ordnung, und ich stoße in Ermangelung einer Alternative mit mir selbst an.
Cincin, Marcus!
“RIOMAGGIORE ON THE ROCKS”
Freitag, 24. September 2021
Stolz kann ich verkünden, dass ich heute morgen durch dreimaliges Ausschlafen in Folge das Faulenz-Triple perfekt gemacht habe - für meine Verhältnisse eine absolute Rarität. Seit der Schulpflichtigkeit unserer älteren Tochter klingelt auch an Spätdienst-Tagen um 6:00 Uhr der Wecker, wodurch ich mich so sehr an das frühes Aufstehen gewöhnt habe, dass ich in der Regel um 7:00 Uhr von alleine wach werde - auch an den recht seltenen freien Tagen.
Mit dieser Überdosis Schlaf hält ein fast vergessenes Lebensgefühl Einzug: Statt mich - ausgestattet mit Augenringen bis Jericho - durch den Tag zu schleppen, bin ich schon nach dem Öffnen des Fensters am Morgen bestens gelaunt und putzmunter. Ich freue mich sowohl über den sich mir bietenden Anblick, als auch auf den vor mir liegenden Tag, den ich ganz ähnlich wie gestern sowohl mit einem Strandbesuch, als auch mit einem abschließenden Abend-Shooting verbringen möchte - heute vermutlich in Riomaggiore.
Nach einem ausgiebigen Frühstück in meinem frisch auserkorenen Lieblingsrestaurant, dass buchstäblich nur wenige Schritte entfernt auf der gegenüberliegenden Straßenseite meiner Unterkunft liegt, packe ich meinen Tagesrucksack und bin 10 Minuten später schon am Wasser. Dort lasse ich mir die Sonne auf die Haut scheinen, lese viel, höre Musik und hüpfe zwischendurch zu Abkühlungszwecken von einem kleinen Felsen ins Meer.
Dass ich beim Besteigen desselbigen irgendwann abrutsche und mir eine etwas tiefere Schnittwunde am Fuß zuziehe, ist der einzige Wermutstropfen an diesem ansonsten äußerst entspannt verlaufenden Strandtag. Glücklicherweise werde ich noch vor Ort von einem netten italienischen Pärchen fachmännisch versorgt.
Am frühen Nachmittag beginne ich mir Gedanken über den optimalen Standpunkt für die Abendaufnahme zu machen. Dazu schaue ich mir viele Riomaggiore-Bilder anderer Fotografen an und versuche mittels Google Earth die Aufnahmeposition der ansprechenden Kompositionen zu ermitteln. Das Ergebnis dieser Recherche bekräftigt mich in dem Entschluss, zur blauen Stunde auf dem Wellenbrecher vor der Stadt Stellung zu beziehen. Vorsichtshalber nehme ich noch einmal kurz Kontakt mit Thomas auf, weil er sich an genau diesem Platz vor ein paar Monaten den Fuß gebrochen hat. Laut seiner Aussage sind die aufgeschütteten Felsen bei Nässe zwar ziemlich rutschig, doch davon abgesehen sollte ich keinerlei Probleme mit meinem Plan bekommen.
Gegen 17:30 Uhr komme ich mit dem Zug in Riomaggiore an und bin von der sich hier tummelnden Menge an Menschen förmlich erschlagen. Nicht, dass es tagsüber in Vernazza und Manarola beschaulich zugegangen wäre, doch dass sich die Touristenmassen dermaßen zähflüssig durch die Gassen schieben, ist bis dato ein Novum für mich.
Kurz vor Erreichen der Location geht es plötzlich überhaupt nicht mehr voran. Auf zum Hafen hochführenden Stufen kommt mir auf der linken Seite ein nicht enden wollender Strom von Menschen entgegen, während der Fußverkehr in meine Richtung durch eine an dieser Engstelle seelenruhig fotografierende Frau blockiert wird. Als diese sich nach einem - von mir nur mäßig höflich vorgetragenem - “EXCUSE ME?”, mit der ich sie auf den vorhandenen Missstand aufmerksam mache, zu mir umdreht, bin ich einen kurzen Moment sprachlos: Entgegen aller Wahrscheinlichkeiten bin ich in dem chaotischen Riomaggiore-Gewusel zufällig auf Sabine gestoßen, die ich am Abend zuvor in Vernazza kennengelernt hatte.
Auch sie scheint sich über das unerwartete Wiedersehen zu freuen, und vor lauter Rührung über diesen Umstand vergesse ich fast, dass wir jetzt im Duo den Weg zum Hafen blockieren. Da ich darüber hinaus von hier erkennen kann, dass einige Stellen auf dem Wellenbrecher bereits von anderen Fotografen besetzt werden und ich um meinen virtuell gescouteten Wunschplatz fürchte, muss ich schnell weiter - womit das Vergnügen unseres Zusammentreffens leider von nur kurzer Dauer ist. Ich unterrichte Sabine über meine Pläne und hoffe, dass wir uns später noch sehen werden.
Seit gestern Abend kamen immer mal wieder Zweifel an der Richtigkeit meines vielleicht desinteressiert wirkenden Abschieds nach dem Vernazza-Shooting auf. Schließlich habe ich bislang nicht oft erlebt, dass sich in Minutenschnelle eine völlig irrationale Vertrautheit zu einer prinzipiell wildfremden Person entwickelt hat. Ich bin verheiratet, sie in einer festen Beziehung - und trotzdem hatte ich die Befürchtung, dass sie die Frage nach einem gemeinsamen Abendessen hätte missverstehen, und als aufdringlich empfinden können.
Statt solchen Überlegungen nachzuhängen, sollte ich mich lieber etwas mehr auf die direkt vor mir liegenden Schritte konzentrieren - im wahrsten Sinne des Wortes. Obwohl die vor Riomaggiore aufgeschütteten, tonnenschweren Felsbrocken aufgrund des ruhigen Seegangs trocken sind und guten Halt für die Schuhe bieten, möchte ich hier auf keinen Fall den Thomas machen und mir den Fuß brechen. Von daher stakse ich mit dem schweren, auf dem Rücken baumelnden Kamerarucksack äußerst vorsichtig bis zur Mitte des der Stadt vorgelagerten Wellenbrechers.
Am Ziel angekommen muss ich leider feststellen, dass der mir optimal erscheinende Platz tatsächlich bereits belegt ist. Bis ich einen alternativen Standpunkt gefunden habe, der sowohl kompositorisch funktioniert, als auch einen sicheren Stand für mein Stativ bietet, vergehen fast 30 Minuten.
Einerseits bereiten mir die vor der Stadt treibenden Boote, die bei Langzeitbelichtungen mit Sicherheit nicht scharf abgebildet werden können, etwas Sorge, andererseits bringt die Diagonale des im Vordergrund links ankernden Exemplars auch etwas willkommene Dynamik in den Bildaufbau:
Während des Wartens auf die blaue Stunde blicke ich immer häufiger sorgenvoll zum Himmel, da die über die Stadt ziehenden Wolken recht schnell dichter und schwerer zu werden scheinen. Hoffentlich bleibt es bis zur Aufnahme meines Bildes trocken, da mir ansonsten der Rückweg über den Wellenbrecher nicht nur wegen der Dunkelheit, sondern auch durch die Rutschgefahr nicht unerheblich erschwert werden würde.
Kurz nach Sonnenuntergang gesellt sich Sabine zu mir, so dass ich fortan etwas willkommene Unterhaltung auf meinem Felsen habe. Als gegen 19:40 Uhr die künstliche Beleuchtung der Stadt mit dem Restlicht im Himmel perfekt harmoniert, entsteht meine Interpretation dieses Riomaggiore-Abends:
15 Minuten später machen wir uns auf den Rückweg über die Felsen und beschließen den Abend mit einem gemeinsamen Essen ausklingen zu lassen. Nach kurzer Suche finden wir ein ansprechendes Restaurant, müssen aber mit einem Platz im Innenbereich vorlieb nehmen. Erneut stelle ich mit Erstaunen fest, wie schnell sich zwischen uns eine vertraute Atmosphäre einstellt, und wir uns frei von Oberflächlichkeiten ganz natürlich und entspannt austauschen können.
Dabei erfahre ich unter anderem, dass Sabine öfter in den Genuss gehobener Küche kommt. Sehr praktisch, da ich mich seit einigen Minuten mit der kulinarischen Frage beschäftige, ob das meiner Pasta beigelegte Gewölle wohl essbar ist, oder sich nur zu Dekorationszwecken auf dem Teller befindet. Sabine ist sichtlich amüsiert über meine Unkenntnis und klärt mich darüber auf, dass mir in diesem ausgezeichneten Restaurant eines der edelsten und teuersten Gewürze der Welt kredenzt wird - Safran-Fäden.
Eigentlich sollte mir diese Bildungslücke etwas peinlich sein, doch Sabine hat auch ein Problem: Ihr Gericht scheint nicht zu schmecken, denn sie kommt mit ihren Nudeln kaum voran. Auf Nachfrage gesteht sie mir lachend, dass sie bewusst langsam und vorsichtig isst, weil ihr mir gegenüber das bei Spaghetti fast unvermeidliche Geschlürfe unangenehm sei. Muss es zwar überhaupt nicht, aber trotzdem bin ich froh, dass es im großen Wettstreit der Peinlichkeiten jetzt 1:1 unentschieden steht.
Nachdem wir die Rechnung bezahlt haben, besorgen wir uns noch eine Kleinigkeit zu trinken und setzen uns in der Nähe des Hafens ans Wasser. Dort verquatschen wir uns dermaßen, dass ich mich leider viel zu überhastet von Sabine verabschieden muss, um den letzten Zug nach Vernazza nicht zu verpassen. Sehr gerne hätte ich mit ihr noch mehr Zeit in der Cinque Terre verbracht, doch bereits morgen werde ich mit gemischten Gefühlen die Heimreise antreten. Zurück zu meiner lieben Familie, aber auch zurück zu der nach wie vor ungelösten Problematik bezüglich meiner beruflichen Zukunft.
CIAO, CINQUE TERRE!
Samstag, 25. September 2021
Pünktlich zum Ende des Trips endet auch meine Ausschlaf-Strähne. Nachdem ich gestern Abend gegen 22:45 Uhr wieder in Vernazza war, habe ich schon mal das Gröbste vorgepackt und anschließend bis 2:00 Uhr verschiedene Bearbeitungsrichtungen des Riomaggiore-Bildes ausprobiert.
Durch das geöffnete Fenster dringen um 6:30 Uhr die Geräusche des erwachenden Vernazzas, welche mich unsanft aus meinen Träumen reißen. Hundemüde bibbere ich 10 Minuten unter der kalten Dusche, doch der gewünschte Effekt bleibt aus: Ich bin immer noch total fertig und maximal weit davon entfernt irgendwelche Bäume auszureißen zu wollen.
Nach einem kurzen Telefonat erklärt sich mein Vermieter Ivo netterweise dazu bereit mein Gepäck weit über die Checkout-Zeit hinaus zu beherbegen, da ich erst am frühen Nachmittag über La Spezia und Pisa nach Amsterdam aufbrechen muss.
Immer noch schlaftrunken plumpse ich Schritt für Schritt das lange Treppenhaus hinunter, eiere mit halb geschlossenen Augen quer über die Straße und lasse mich auf den letzten freien Platz an einem Tisch der Pizzeria Basso fallen, die inzwischen fast so etwas wie mein Stammlokal geworden ist.
Eine Stunde, zwei Kaffe und drei große Schokobrötchen später bin ich endlich einigermaßen wach. Als ich die Rechnung von gerade mal 6,60 Euro für das gesamte Frühstück erhalte nutze ich die Gelegenheit, um mich beim Chef nicht nur für die moderaten Preise und das leckere Essen, sondern auch für den überaus netten Service in den letzten Tagen zu bedanken.
Um die Zeit bis zu meiner Abreise zu überbrücken, kaufe ich ein paar Souvenirs für die Kinder und steuere danach ein letztes Mal den Felsenstrand von Vernazza an. Aufgrund der dichten Bewölkung und des ungewöhnlich kräftigen Windes verspüre ich aber keine Lust mich nochmal in die Fluten zu stürzen. Stattdessen tagträume ich mich bei netter Musik über die Kopfhörer weg und lese kurz vor meinem Aufbruch noch ein wenig. Auf dem Rückweg zum AirBnB entdecke ich einen Mann am Felsstrand, der reglos in höchst merkwürdiger Pose auf einem Felsen liegt. Ich spiele gedanklich schon mal eventuell nötige Reanimationsmaßnahmen durch, doch nach kurzer Beobachtung stelle ich erleichtert fest, dass es ihm trotz gegenteiligen Anscheins gut geht.
Ich hole mein Gepäck bei Ivo ab und bedanke mich für den netten und unkomplizierten Aufenthalt bei ihm. Während des Abschieds bietet er mir erneut an beim Heruntertragens meines Gepäcks behilflich zu sein. Ich bin ja lernfähig und darf von daher kurz darauf fasziniert bewundern, wie er - meinem Koffer geschickt auf dem Kopf balancierend - leichtfüßig das Treppenhaus herunterspaziert.
Während der Zugfahrt über La Spezia nach Pisa ereignet sich nichts Besonderes, außer dass ich zum ersten Mal von einem Kontrolleur nach meinem Ticket gefragt werde - die vergangenen Tage hätte ich problemlos schwarz fahren können.
Am Flughafen Pisa gerate ich jedoch in eine etwas skurrile Situation: Auf dem Weg zum Terminal checke im Laufen kurz meine Flugdaten und laufe dabei, abgelenkt durch das Handy, aus Versehen fast in einen Mann mit hellem Kapuzenpulli. Als ich aufblicke, bin ich verwirrt: Für wenige Sekunden glaube ich einen Fehler in der Matrix entdeckt zu haben, denn um mich herum tummeln sich plötzlich nur noch ganz ähnlich gekleidete Kapuzenpulliträger.
Dass hier offenbar einige sehr wichtige Leute unterwegs sind realisiere ich erst, als ich auf italienisch angeblafft werde und dadurch die ebenfalls anwesenden Sicherheitsbeamten bemerke. Allem Anschein wäre ich in meiner Paddeligkeit beinahe quer durch die Mannschaft des AC Mailand gelaufen, die sich nach einem siegreichen Spiel gegen Spezia Calcio auf dem Rückweg nach Hause befindet.
EPILOG & VIDEO
Mit diesem kleinen Highlight sollte meine in sämtlichen Belangen außergewöhnliche Fototour 2021 enden. Ich war zugegebenermaßen ziemlich faul, bin mit nur vier vorzeigbaren Bildern nach Hause gekommen - und werde trotzdem noch lange von dieser für mich ganz besonderen Zeit zehren, an denen ich ganz der sein durfte, der ich bin. Frei von familiären und beruflichen Verpflichtungen in den Tag leben, nette Menschen kennenlernen und abends wunderschöne Orte fotografieren: Das Leben kann so schön sein!
Aber auch Folgendes gehört zur Wahrheit:
Ein paar Tage später werde ich, hart auf dem Boden der beruflichen Tatsachen aufschlagend, einen Zusammenbruch erleiden. Drei Monate später sitze ich mit einer Burn-Out-Diagnose in der Tagesklinik und soll mich plötzlich auf Fantasiereisen begeben, Speckstein bearbeiten oder Mandalas ausmalen. Mehr als alles andere beschäftigt mich in dieser Zeit die Frage, wie es in aller Welt so weit kommen konnte.
Im Frühling 2022 wird meinem Antrag auf Arbeitszeitverkürzung in Anbetracht des erlittenen Burn-Outs schließlich stattgegeben, so dass ich seitdem Berufs-, Familien- und Privatinteressen wieder recht gut in Einklang bringen kann.
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